Die kritische Geopolitik ist eine Forschungsrichtung der politischen Geographie, die in den 1970er Jahren entstanden ist. In den 80er und 90er Jahren wurde sie stark von dem Iren Gearóid Ó Tuathail geprägt. Sie untersucht wissenschaftlich, wie in Politik und Medien Geopolitik gemacht wird und geht davon aus, dass politischen Denken und Handeln häufig auf konstruierten Vorstellungen basiert.
Inhalte
Forschungsziel
Das Ziel der kritischen Geopolitik liegt vor allem darin, bestehende geopolitische Leitbilder zu dekonstruieren. Hierdurch soll der häufig manipulative Charakter dieser Leitbilder offengelegt werden. Darüber hinaus spielt die Suche nach Akteuren, die solche Leitbilder produzieren eine wichtige Rolle.
Im Gegensatz zu früheren geopolitischen Vorstellungen wurden räumliche Strukturen nicht mehr als gegeben angesehen. Bei der kritischen Geopolitik wird davon ausgegangen, dass nicht der Raum an sich die gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst. Stattdessen prägen die räumlichen Vorstellungen in den Köpfen der Menschen eine Gesellschaft.
Geopolitische Leitbilder des Westens
In der Vergangenheit gab es immer wieder mächtige geopolitische Leitbilder, die einen großen Einfluss auf das Denken der Menschen genommen haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte vor allem das Leitbild des kalten Krieges eine große Rolle, da mit den Nationalsozialisten der gemeinsame Feind des Westens und des Ostblocks besiegt wurde und nun die Unterschiede dieser beiden Fraktionen wieder deutlich zum Tragen kamen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu einer Pluralisierung der Leitbilder und es rückten geoökonomische und geoökologische Leitbilder in den Vordergrund. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 spielten jedoch wieder geopolitische Leitbilder eine wichtige Rolle. Vor allem das Bild vom „Kampf der Kulturen“ wurde immer wieder in Politik und Medien aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Aus Sicht der kritschen Geopoltik ist dieses Leitbild sehr problematisch, da es auf stark vereinfachten Annahmen basiert und gleichzeitig sehr wirkungsmächtig ist, sodass es Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturen stärken kann.
Gesellschaft, Macht und Raum
Bei der Dekonstruktion von Raumvorstellungen und geopolitischen Leitbildern spielt das im Jahr 2001 von Lossau entwickelte „diskursive Dreieck“ eine wichtige Rolle. Hierbei werden die wechselseitigen Einflüsse von Gesellschaft, Macht und Raum analysiert. Beispielsweise werden bei der Entstehung von Konflikten die kartographischen und sprachlichen Mittel analysiert, die die Akteure (vor allem Politiker und deren Berater) verwenden. Darüber hinaus spielen die wissenschaftliche Argumentation und die Medien eine wichtige Rolle bei der Analyse.
Spatial Turn
Weiterhin wurde bei der kritischen Geopolitik der „Spatial Turn“ integriert, bei dem auch die kulturelle Dimension des geographischen Raumes berücksichtigt wird.
Kritik
Die Kritik an der kritischen Geopolitik bezieht sich vor allem darauf, dass unterschiedliche Theorien vermischt werden. Diese Theorien haben unterschiedliche und teilweise sogar gegensätzliche Annahmen.
Weiterhin wird die Betrachtung der Akteure kritisiert, da diese als ausschließlich rational handelnde Wesen dargestellt werden, die geopolitische Leitbilder für ihre Interessen ausnutzen.
Quellen:
Reuber P. (2012): Politische Geographie. (Schöningh) Paderborn. (163-177)
Ó Tuathail, G. (1996): Critical Geopolitics. The Politics of Writing Global Space. (Routledge) London
Gebhardt, H., Glaser, R., Radtke, U. und P. Reuber (Hrsg.) (2007): Geographie. Physische Geographie und Humangeographie. (Spektrum Akademischer Verlag) Heidelberg & München. (S. 757-759)
Freytag T., Gebhardt, H., Gerhard U., u. D. Wastl-Walter (Hrsg.) (2016): Humangeographie kompakt. Berlin & Heidelberg. (S. 104-111)
Ross M. (2015): Weltbilder aus Stein. Passau. (S. 50-56)
Klein O. (2015): Imaginative Geographien in multiskalaren Produktions-netzwerken – Das Beispiel der Schweinefleischproduktion im Oldenburger Münsterland. Vechta. (S. 60-63)
Gebhardt H., Reuber P. und G. Wolkersdorfer (Hrsg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Berlin & Heidelberg. (S. 51-63)